Alts letzte Revolte: Ehrenpräsident der Secession

Stell dir das Wien des Jahres 1897 vor. Die Kunstszene brodelt. Eine Gruppe junger, wilder Künstler unter der Führung des damals schon berühmt-berüchtigten Gustav Klimt probt den Aufstand. Sie wollen mit der verstaubten Tradition brechen, eine neue, moderne Kunst schaffen und die Fenster Wiens zur internationalen Avantgarde aufstoßen. Sie gründen einen revolutionären Verein, die „Wiener Secession“.

Und dann folgt ein Paukenschlag, der die ganze Stadt in Erstaunen versetzt: Zum Ehrenpräsidenten dieser jungen Rebellen wird kein Geringerer als der 85-jährige Rudolf von Alt ernannt – der Inbegriff der Tradition, der vom Kaiser geadelte Meister der Vedute. Dieser scheinbar paradoxe Akt war kein Zufall. Er war ein genialer strategischer Schachzug und das letzte, mutigste Meisterwerk von Alts langer Karriere – eine Demonstration von Integrität, Weitsicht und unzerstörbarer geistiger Jugend.

Das Wiener Künstlerhaus: Ein erstarrter Riese

Um die Sprengkraft dieser Entscheidung zu verstehen, muss man die Situation der Wiener Kunstszene am Ende des 19. Jahrhunderts kennen. Die beherrschende Institution war die „Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens“ (kurz: Künstlerhaus). Diese 1861 gegründete Vereinigung hatte ursprünglich das Ziel, die Interessen aller Künstler zu vertreten. Doch über die Jahrzehnte war sie zu einem erstarrten, konservativen Giganten geworden.

Das Künstlerhaus kontrollierte den lukrativen Ausstellungsmarkt und bevorzugte dabei einen pompösen, akademischen Stil, den sogenannten Historismus oder „Makart-Stil“, der beim Kaiserhof und dem reichen Bürgertum beliebt war. Neuere, modernere Strömungen wie der Impressionismus, der Symbolismus oder der Jugendstil wurden misstrauisch beäugt und von den wichtigen Ausstellungen ferngehalten.

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„Ver Sacrum“: Die Gründung der Secession

Innerhalb des Künstlerhauses wuchs die Frustration der jüngeren Generation. Künstler wie Gustav Klimt, Koloman Moser, Josef Hoffmann und Joseph Maria Olbrich fühlten sich von der Jury des Künstlerhauses systematisch gegängelt und zensiert. Sie wollten sich mit den neuesten internationalen Strömungen auseinandersetzen, doch der vorherrschende Nationalismus und Konservatismus blockierte dies. Der endgültige Auslöser für den Bruch war die Weigerung des Künstlerhauses, ausländische Künstler gleichberechtigt an Ausstellungen teilnehmen zu lassen.

Am 3. April 1897 traten Klimt und seine Mitstreiter aus der Genossenschaft aus und gründeten die „Vereinigung bildender Künstler Österreichs – Secession“. Der Name war Programm: „Secession“ bedeutet Abspaltung. Ihr publizistisches Organ nannten sie „Ver Sacrum“ (Heiliger Frühling), ein Titel, der ihren Anspruch auf eine radikale Erneuerung der Kunst unmissverständlich zum Ausdruck brachte.

Ein genialer Schachzug

Die junge Bewegung brauchte für ihren Kampf gegen das mächtige Establishment jede nur erdenkliche Unterstützung. Und hier kam Rudolf von Alt ins Spiel. Die Wahl des greisen Meisters zu ihrem Ehrenpräsidenten war ein strategischer Geniestreich mit mehrfacher Wirkung:

  • Legitimität und Schutz: Rudolf von Alts Name war eine Institution. Er war der Lieblingsmaler des alten Kaisers, beim Adel beliebt und von der gesamten Öffentlichkeit als nationaler Schatz verehrt. Einen Verein, dessen Ehrenpräsident Rudolf von Alt war, konnte man nicht einfach als eine Gruppe verrückter junger Spinner abtun. Sein Name war ein Schutzschild, das die Secession vor den schlimmsten Angriffen der Politik und der konservativen Presse bewahrte.
  • Symbolische Brücke zur Tradition: Mit von Alt an ihrer Spitze konnten die Secessionisten dem Vorwurf entgegentreten, sie wollten die große österreichische Kunsttradition zerstören. Im Gegenteil, sie konnten argumentieren: „Seht her, der größte lebende Vertreter dieser Tradition steht auf unserer Seite! Wir zerstören nicht, wir führen die Kunst auf eine neue Stufe.“ Rudolf von Alt wurde zur lebenden Brücke zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert.
  • Ein gezielter Affront: Die Wahl war natürlich auch eine schallende Ohrfeige für das Künstlerhaus. Indem die Secessionisten dessen prominentestes und ältestes Mitglied abwarben und auf ihren Schild hoben, demonstrierten sie öffentlich die moralische und künstlerische Bankrotterklärung des alten Vereins.

Alts Motivation: Integrität und Neugier

Aber warum machte der 85-jährige, mit Ehrungen überhäufte Rudolf von Alt diesen Schritt mit? Warum solidarisierte sich der Maler der alten Kaiserstadt mit den jungen Wilden? Seine Entscheidung war kein plötzlicher Sinneswandel, sondern die konsequente Folge seiner künstlerischen und menschlichen Haltung.

Erstens war von Alt, wie sein Spätwerk beweist, selbst ein Künstler, der sich nie mit dem Erreichten zufriedengab. Seine späten Aquarelle mit ihrer lockeren Pinselführung und der Auflösung der Formen in Licht und Atmosphäre zeigen seine eigene Offenheit für moderne, fast impressionistische Tendenzen. Er war im Herzen neugierig geblieben.

Zweitens wird berichtet, dass auch er unter dem zunehmend starren und von kommerziellen Interessen geprägten Klima im Künstlerhaus litt. Er besaß eine tiefe künstlerische Integrität und erkannte das überragende Talent von Gustav Klimt und seinen Mitstreitern an. Er verstand, dass die Kunst eine Erneuerung benötigte, um lebendig zu bleiben. Seine berühmte Aussage anlässlich seines Austritts aus dem Künstlerhaus soll gelautet haben: „Ich bin für die Jugend, weil ich hoffe, dass sie das ist, was wir nicht gewesen sind: Künstler, die aus sich selbst schöpfen.“

Die Wirkung: Ein Fels in der Brandung

Die Wirkung dieser ungewöhnlichen Allianz war enorm. Rudolf von Alts Ehrenpräsidentschaft verlieh der Secession von der ersten Stunde an eine Würde und ein Ansehen, das die Kritiker nicht ignorieren konnten. Er besuchte die Eröffnungen der Secessions-Ausstellungen, und allein seine Anwesenheit adelte die gezeigten, oft als „anstößig“ empfundenen Werke von Klimt, Schiele oder Kokoschka. Rudolf von Alt wurde zum Felsen in der Brandung des Kulturkampfes, der in Wien tobte. Er verkörperte die Idee, dass wahre Kunst nicht von Stilrichtungen oder Generationen abhängt, sondern von Qualität und innerer Notwendigkeit. Ehrenpräsident blieb er bis zu seinem Tod im Jahr 1905 und erlebte so noch die fruchtbarsten und erfolgreichsten Jahre der Bewegung, die er mit seinem guten Namen geschützt hatte.

Fazit

Rudolf von Alts Entscheidung, sich der Secession anzuschließen, war sein letztes und vielleicht sein mutigstes Meisterwerk. Es war kein Bild auf Papier, sondern ein kraftvoller öffentlicher Akt, der seinen Charakter und seine außergewöhnliche geistige Frische unter Beweis stellte. Er, der Chronist des imperialen Wiens, der die Pracht der Ringstraße dokumentiert hatte, wurde am Ende seines Lebens zum Wegbereiter für die Kunst, die diese Epoche überwinden sollte.

Seine Ehrenpräsidentschaft war mehr als nur eine Geste; sie war das entscheidende Bindeglied, das die große Wiener Maltradition des 19. Jahrhunderts mit der revolutionären Moderne des 20. Jahrhunderts verband. Rudolf von Alt war nicht nur ein Bewahrer der Vergangenheit, er war auch ein Geburtshelfer der Zukunft.


FAQs

Was genau bedeutet das Wort „Secession“?
„Secession“ kommt aus dem Lateinischen (secessio) und bedeutet „Abspaltung“ oder „Austritt“. Die Künstler spalteten sich bewusst von der etablierten Künstlervereinigung, dem Künstlerhaus, ab, um ihre eigenen, modernen Wege zu gehen. Es gab ähnliche Secessions-Bewegungen auch in München und Berlin.

Wer war der Präsident des Künstlerhauses zur Zeit der Spaltung?
Zur Zeit der Gründung der Secession war der einflussreiche Historienmaler Eugen Felix Präsident des Wiener Künstlerhauses. Er stand für die konservative Linie, die von den jungen Künstlern abgelehnt wurde.

Hat Rudolf von Alt selbst im Stil der Secessionisten gemalt?
Nein. Obwohl sein Spätwerk sehr frei und modern wurde, hat er nie im typischen Stil des Wiener Jugendstils oder Symbolismus von Klimt und seinen Kollegen gemalt. Seine Rolle war nicht die eines stilistischen Mitläufers, sondern die eines moralischen und symbolischen Unterstützers.

Wie lange war von Alt Ehrenpräsident der Secession?
Er war Ehrenpräsident von der Gründung der Secession im Jahr 1897 bis zu seinem Tod im Jahr 1905. Er hat die gesamte Blütezeit der Vereinigung begleitet.

Gibt es heute noch eine Rivalität zwischen Künstlerhaus und Secession?
Nein, die alte Rivalität ist längst Geschichte. Heute sind das Wiener Künstlerhaus und die Wiener Secession zwei eigenständige, international renommierte Ausstellungshäuser mit unterschiedlichen Programmen, die beide ein wichtiger Teil der Wiener Kunstszene sind.

Gerhard RogenhoferJedes Objekt, das wir finden, ist ein Echo menschlicher Erfahrungen. Ich bin Gerhard und für mich ist Kulturgeschichte vor allem die Summe unzähliger persönlicher Schicksale. Hier auf Kultur-Fundstücke.de spüre ich diesen menschlichen Geschichten nach, die unsere Welt geformt haben.