Ende des 19. Jahrhunderts pochte das Deutsche Kaiserreich im fiebrigen Takt der Industrialisierung. Die Städte wuchsen zu lärmenden, rauchenden Molochen, das Leben wurde schneller, anonymer und schien sich immer weiter von seinen Wurzeln zu entfernen. Inmitten dieses Fortschrittsrausches regte sich eine tiefe kulturelle Gegenströmung, eine Sehnsucht nach einem einfacheren, wahrhaftigeren Dasein: die Lebensreform. Man suchte das Heil in der Natur, in der vegetarischen Ernährung, im einfachen Leben.
Die Gründung der Künstlerkolonie Worpswede im Jahr 1889 war vielleicht der reinste und bis heute wirkmächtigste künstlerische Ausdruck dieser Sehnsucht. Es war die Geschichte einer Flucht – einer Flucht vor der Enge der Städte, vor der sterilen Lehre der Akademien und vor einer als seelenlos empfundenen Zivilisation. Dieser Artikel ergründet den Gründungsmythos, die künstlerische Philosophie und die prägenden Persönlichkeiten, die ein abgelegenes Moordorf bei Bremen zu einem der wirkmächtigsten Orte der deutschen Kunstgeschichte machten.
Eine Bruderschaft der Unzufriedenen
Der Mythos Worpswede beginnt mit einer Handvoll junger Männer, die in ihrer Unzufriedenheit mit dem Bestehenden vereint waren. Sie kannten sich von den Kunstakademien in Düsseldorf, Karlsruhe und München und teilten die Frustration über einen Lehrbetrieb, der in ihren Augen jede Kreativität erstickte.
- Fritz Mackensen (1866–1953): Er gilt als der „Entdecker“ Worpswedes. Bereits 1884 hatte er das Dorf besucht und war von der unberührten Landschaft fasziniert. Mackensen war der akademisch solideste der Gruppe, sein Stil blieb dem Realismus am stärksten verbunden. Er wurde oft zur Vaterfigur und zum organisatorischen Anker der Gemeinschaft.
- Otto Modersohn (1865–1943): Er war das emotionale Zentrum, die lyrische Seele der Gruppe. Für Modersohn war die Malerei ein Mittel, um tiefste innere Empfindungen auszudrücken. Sein berühmtes Credo lautete: „Ich muss es malen, das Eigenartige, das Intime, das urgemütliche Leben.“ Er suchte nicht das Abbild der Natur, sondern ihr Wesen.
- Hans am Ende (1864–1918): Er war der ruhige, besonnene Techniker und das ausgleichende Element. Als meisterhafter Radierer fand er in der Grafik das perfekte Medium für die herbe Landschaft. Seine Werke zeichnen sich durch eine besondere Harmonie und eine meisterhafte Beherrschung von Licht und Komposition aus.
Zu diesen drei Gründern, die sich 1889 in Worpswede niederließen, stießen 1894 zwei weitere entscheidende Persönlichkeiten. Der Westfale Fritz Overbeck (1869–1909) teilte die erdverbundene Malweise der Gründer und wurde bekannt für seine Bilder von wolkenverhangenen Moorkanälen. Der aus einer Bremer Kaufmannsfamilie stammende Heinrich Vogeler (1872–1942) brachte eine völlig neue Note in die Gemeinschaft. Er kaufte 1894 den Barkenhoff, den er zu einem Gesamtkunstwerk des Jugendstils umbaute. Vogeler war der Träumer, der Ästhet, der die herbe Realität Worpswedes mit einer märchenhaften, ornamentalen Eleganz überzog.
Die Worpsweder Philosophie: Wahrheit statt Schönheit
Radikaler Anti-Akademismus
Ihre Hauptfeinde waren die Kunstakademien. Sie lehnten deren starre Regeln, die Hierarchie der Gattungen (mit der Historienmalerei an der Spitze) und die Themenwahl ab. Statt mythologischer oder historischer Szenen in dunklem Atelierlicht wollten sie das wirkliche Leben malen, so wie sie es vor ihren Augen sahen.
Das Credo der Freilichtmalerei
Das zentrale Dogma war das Malen „en plein air“. Dieses aus Frankreich von der Schule von Barbizon und den Impressionisten übernommene Prinzip wurde in Worpswede jedoch eigenständig interpretiert. Während es den Franzosen oft um die Analyse des flüchtigen Moments und des Lichts ging, nutzten die Worpsweder die Freilichtmalerei, um die tiefere, bleibende Stimmung einer Landschaft einzufangen. Die Natur war kein wissenschaftliches Studienobjekt, sondern ein Gegenüber.
Die Seelenlandschaft
Dies führt zum Kern ihrer Philosophie: dem Konzept der Seelenlandschaft. Die Worpsweder malten nicht einfach das Teufelsmoor. Sie nutzten die karge Weite, die dramatischen Wolken, die spiegelnden Wasserflächen und die einsamen Birken als Projektionsfläche für ihre eigenen inneren Zustände. Die Landschaft wurde zum Spiegel der Seele, zum Ausdruck von Stimmungen wie Melancholie, Einsamkeit, aber auch von tiefer Ruhe und feierlicher Stille. Diese Emotionalisierung der Natur war ihr wichtigster Beitrag zur deutschen Malerei an der Schwelle zur Moderne.
Der Ort als Protagonist
Um Worpswede zu verstehen, muss man das Teufelsmoor verstehen. Diese Landschaft, über Jahrhunderte durch den mühsamen Abbau von Torf kultiviert, war alles andere als eine klassisch schöne Landschaft. Sie war flach, weit, oft nebelverhangen und von einem Netz aus dunklen Kanälen, den sogenannten Fleeten, durchzogen. Die Vegetation war karg: Heidekraut, Wollgras und die charakteristischen, knorrigen Birken.
Was diese Landschaft für die Künstler so faszinierend machte, war gerade ihre Reduziertheit. Der Horizont war unendlich weit, der Himmel nahm oft zwei Drittel des Bildes ein und wurde zur Bühne für dramatische Wolkenspiele. Das Licht hatte durch die ständige Feuchtigkeit in der Luft eine einzigartige, diffuse Qualität. Es war eine Landschaft, die zur Kontemplation zwang und die in ihrer Einfachheit eine monumentale, fast heilige Wirkung entfalten konnte.
Von der Entdeckung zum Mythos
Der Wendepunkt vom Geheimtipp zum nationalen Phänomen war die bereits erwähnte Ausstellung im Münchner Glaspalast 1895. Die Bilder der Worpsweder hingen neben der pompösen, konventionellen Salonkunst der Zeit und wirkten wie eine Offenbarung. Die Reaktionen waren extrem. Ein Kritiker schimpfte über die „violette Soße“ ihrer Bilder und nannte sie „Apostel des Hässlichen“, weil sie es wagten, einfache Bauern in Holzschuhen statt idealisierter Figuren zu zeigen. Doch andere, wie der junge Rainer Maria Rilke, erkannten sofort die künstlerische Kraft und Authentizität. Rilke heiratete später die Worpsweder Bildhauerin Clara Westhoff und seine Monografie „Worpswede“ trug entscheidend zur Stilisierung des Mythos bei.
Der plötzliche Ruhm hatte tiefgreifende Folgen. Das verschlafene Dorf wurde zum Ziel von „Kunst-Touristen“. Neue Künstlerinnen und Künstler kamen, darunter die junge, hochtalentierte Paula Becker, die später als Paula Modersohn-Becker zur wichtigsten Vertreterin des frühen Expressionismus in Deutschland werden sollte. Ihr radikal moderner, von Paris beeinflusster Stil sprengte bald den Rahmen der älteren Gründergeneration.
Die ursprüngliche Einheit der Bruderschaft begann zu bröckeln, persönliche und künstlerische Differenzen traten auf. Heinrich Vogelers Barkenhoff wurde mit seinen Festen und Konzerten zum gesellschaftlichen Zentrum, das eine neue, elegantere und internationalere Atmosphäre schuf, die sich von der erdigen Einfachheit der Anfangsjahre entfernte.
Fazit
Der Mythos Worpswede speist sich aus vielen Quellen: aus der Rebellion gegen die Akademien, aus der utopischen Idee einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, aus dem Kult um die unberührte Natur und aus der Erschaffung einer genuin norddeutschen Variante des Realismus und Impressionismus. Auch wenn die ursprüngliche Gemeinschaft zerbrach und die Idylle durch den Ersten Weltkrieg endgültig zerstört wurde, ist die Anziehungskraft des Ortes und seiner Geschichte ungebrochen.
Worpswede ist heute eine Marke, ein etablierter Künstlerort und ein lebendiges Museum. Doch sein Vermächtnis ist größer. Die Geschichte der ersten Worpsweder ist eine zeitlose Erzählung über die Suche nach Authentizität in einer sich rasant wandelnden Welt. Sie handelt vom Mut, eigene Wege zu gehen und über die untrennbare Verbindung zwischen einem Künstler und dem Ort, der seine Seele zum Klingen bringt.
FAQs
Was ist der „Mythos Worpswede“?
Der „Mythos Worpswede“ bezeichnet die Geschichte und die Ideale der 1889 gegründeten Künstlerkolonie. Er umfasst die Flucht der Künstler aus der Stadt, ihr Leben und Arbeiten in der Natur des Teufelsmoors und die Schaffung einer neuen, emotionalen und authentischen Kunst.
Wer waren die wichtigsten Künstler der ersten Worpsweder Generation?
Die Kerngruppe bestand aus den „Gründervätern“ Fritz Mackensen, Otto Modersohn und Hans am Ende. Kurz darauf stießen Fritz Overbeck und der Jugendstil-Künstler Heinrich Vogeler hinzu. Die bedeutendste Künstlerin, die sich der Gruppe anschloss, war Paula Modersohn-Becker.
Was bedeutet der Begriff „Seelenlandschaft“?
„Seelenlandschaft“ ist ein Schlüsselkonzept der Worpsweder Kunst. Es bedeutet, dass die Landschaft nicht objektiv abgebildet, sondern als Spiegel der inneren Gefühle und Stimmungen des Künstlers (z. B. Melancholie, Ruhe, Einsamkeit) interpretiert wird.
Warum war die Ausstellung im Münchner Glaspalast 1895 so wichtig?
Diese Ausstellung machte die bis dahin unbekannte Künstlergruppe über Nacht in ganz Deutschland berühmt. Obwohl die Reaktionen gemischt waren, etablierte die Ausstellung Worpswede als ernst zu nehmende neue Kraft in der deutschen Kunst.
Existiert die Künstlerkolonie Worpswede heute noch?
Ja, Worpswede ist bis heute ein lebendiger Künstlerort mit zahlreichen Museen (u. a. Barkenhoff, Große Kunstschau), Galerien und Ateliers, der von der Geschichte und dem Erbe der ursprünglichen Kolonie lebt.
