Rudolf von Alt: Die Wiener Ringstraße

Am 20. Dezember 1857 fällte Kaiser Franz Joseph I. eine der folgenreichsten Entscheidungen in der Geschichte Wiens. Mit den berühmten Worten „Es ist Mein Wille …“ befahl er den Abriss der massiven Stadtmauern, die die innere Stadt seit Jahrhunderten umschlossen. An ihrer Stelle sollte ein prachtvoller Boulevard entstehen, gesäumt von Monumentalbauten, die die Macht und den Glanz des Habsburgerreiches repräsentieren sollten.

Es war der Startschuss für eine beispiellose städtebauliche Verwandlung, die Geburt der modernen Metropole Wien aus Staub und Schutt. Und mittendrin, mit Skizzenblock und Farbkasten, stand Rudolf von Alt. Er wurde nicht nur zum passiven Beobachter, sondern zum wichtigsten visuellen Zeugen und Chronisten dieses gigantischen Projekts, das wir heute als die Wiener Ringstraße kennen.

Der Zustand davor

Um die radikale Veränderung zu begreifen, die Wien erlebte, muss man sich die Stadt vor 1857 vorstellen. Rudolf von Alts frühe Werke sind unser bestes Fenster in diese Zeit. Sie zeigen eine Stadt, die noch den Charakter einer Festung hatte. Mächtige Mauern und Erdwälle, die Basteien, umgaben den Stadtkern.

Davor erstreckte sich das sogenannte Glacis, eine bis zu 500 Meter breite, unbebaute Wiesen- und Ackerfläche, die aus militärischen Gründen freigehalten wurde. Von Alts Aquarelle aus dieser Epoche, etwa „Die Augustinerbastei“, zeigen diese massive Befestigungsanlage, die die innere Stadt klar von den Vorstädten trennte. Es war ein Bild der Sicherheit, aber auch der Enge, das bald der Vergangenheit angehören sollte.

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Der Abriss

Mit dem kaiserlichen Dekret begann eine Phase des organisierten Chaos. Über Jahre hinweg wurden die gewaltigen Basteien abgetragen. Tausende Arbeiter waren damit beschäftigt, die Mauern niederzureißen und das Glacis-Gelände zu planieren. Rudolf von Alt war auch in dieser Phase des Umbruchs zur Stelle. Seine Bilder aus den Jahren um 1860 sind faszinierende Dokumente der Zerstörung, die Neuem Platz macht.

Er malte die riesigen Schuttberge, die staubigen Baustellen und die ersten klaffenden Lücken im urbanen Gefüge. Seine Ansicht der „Demolierung der Bastei am Kärntnertor“ zeigt die rohe, ungeschminkte Realität dieser Zeit: eine Mondlandschaft aus Schutt und Erde, aus der im Hintergrund noch die Türme der alten Stadt ragen. Es sind Bilder einer Stadt im fiebrigen Übergangszustand.

Die Hofoper im Werden

Das erste und prestigeträchtigste Bauprojekt an der neuen Ringstraße war die k. k. Hofoper (heute Wiener Staatsoper). Rudolf von Alt begleitete ihre Entstehung von 1861 bis 1869 wie ein moderner Baudokumentar. Seine Serie von Aquarellen ist eine einzigartige Chronik in Bildern:

  • Die Baugrube (ca. 1861): Ein frühes Bild zeigt die riesige, ausgehobene Baugrube für das Fundament. Im Hintergrund erkennt man die noch fern wirkende Karlskirche. Der Maßstab wird deutlich: Hier entsteht etwas Gigantisches, das die Proportionen der Stadt für immer verändern wird.
  • Der Rohbau (ca. 1864): Einige Jahre später malte Rudolf von Alt das Opernhaus als eingerüsteten Rohbau. Man sieht die aufsteigenden Mauern, die Bögen der Arkaden, umgeben von einem Meer aus Baumaterialien, Bauhütten und Arbeitern. Er fängt die Atmosphäre der geschäftigen Baustelle perfekt ein.
  • Die Vollendung (ca. 1870): Ein späteres Aquarell zeigt schließlich das fertige, strahlende Gebäude in seiner ganzen Pracht. Es steht noch relativ isoliert an der breiten, neu angelegten Ringstraße. Von Alt feiert hier den Triumph der Architekten August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll und den Stolz der ganzen Stadt auf ihr neues kulturelles Herz.

Diese Serie zeigt eindrücklich, wie von Alt nicht nur einzelne Momente, sondern ganze Prozesse dokumentierte. Er war ein Langzeitbeobachter.

Das neue Stadtzentrum entsteht

Was für die Oper galt, wiederholte sich an anderen Abschnitten des Rings. Besonders der Bereich gegenüber der kaiserlichen Hofburg wurde zum Schauplatz einer beispiellosen Bautätigkeit. Hier sollten die neuen Monumente der bürgerlichen und staatlichen Repräsentation entstehen. Rudolf von Alt hielt auch diese Phase in Panoramabildern fest, die das schiere Ausmaß des Projekts verdeutlichen.

Seine Ansichten vom Bau des neuen Rathauses oder des Parlaments zeigen riesige Bauplätze, auf denen Dutzende Kräne in den Himmel ragen. Er vermittelt ein Gefühl für das jahrelange Nebeneinander von imperialer Pracht auf der einen Seite der Ringstraße (der Hofburg) und dem Lärm, dem Staub und dem Chaos der Baustellen auf der anderen Seite.

Der Maler auf der Baustelle

Was von Alts Ringstraßen-Bilder so besonders macht, ist seine Perspektive. Er war kein distanzierter Betrachter. Er agierte vielmehr wie ein moderner Fotojournalist, der mitten im Geschehen ist, um die beste Geschichte zu bekommen. Für seine Panoramabilder kletterte er auf die Dächer benachbarter Häuser oder sogar auf die Baugerüste selbst, um einen erhöhten Standpunkt zu finden. Von dort aus konnte er die komplexen Strukturen der Baustellen, die Scharen von Arbeitern und die städtebauliche Gesamtsituation am besten erfassen. Diese oft kühnen und ungewöhnlichen Blickwinkel verleihen seinen Werken eine besondere Dynamik und Authentizität. Er malte nicht nur die fertige Architektur, sondern den menschlichen Prozess ihrer Entstehung.

Das vollendete Werk

Nachdem die Bauarbeiten in den 1880er und 1890er Jahren weitgehend abgeschlossen waren, änderte sich auch der Fokus von Alts Bilder. Nun malte er die vollendete Ringstraße, die sich in einen der weltweit prächtigsten Boulevards verwandelt hatte. Seine späten Werke zeigen die breiten, von stattlichen Bäumen gesäumten Alleen, die von eleganten Fiakern befahren werden.

Er malt die Wiener Gesellschaft beim Flanieren vor den neuen Prachtbauten. Diese Bilder stehen in einem faszinierenden Kontrast zu seinen früheren Baustellen-Aquarellen. Sie zeigen das Ergebnis der jahrzehntelangen Anstrengungen und dokumentieren, wie die Ringstraße zum neuen, pulsierenden Lebensnerv der Stadt wurde. Der Kreis seiner Chronik schließt sich.

Fazit

Rudolf von Alts Aquarelle der Wiener Ringstraße sind weit mehr als nur eine Sammlung schöner Stadtansichten. Sie sind in ihrer Gesamtheit ein einzigartiges und unersetzliches historisches Dokument. Kein Fotograf und kein Schriftsteller hat die Entstehung dieses weltberühmten Boulevards so lückenlos, detailliert und zugleich atmosphärisch festgehalten wie er. Seine Bilder sind ein Denkmal aus Papier und Farbe – ein Denkmal für die radikalste Transformation in der Geschichte Wiens. Ohne die Arbeit dieses unermüdlichen Chronisten wäre unser visuelles Verständnis dieser entscheidenden Ära unendlich ärmer. Er hat uns das Gedächtnis einer ganzen Epoche geschenkt.


FAQs

Warum wurde die Wiener Ringstraße überhaupt gebaut?
Die alten Stadtmauern waren militärisch veraltet und hemmten das Wachstum der Stadt. Kaiser Franz Joseph I. wollte mit dem Abriss Platz für die Stadterweiterung schaffen und gleichzeitig einen prachtvollen Boulevard errichten, der mit repräsentativen Gebäuden die Macht und den Wohlstand seines Reiches demonstrieren sollte.

Wie lange hat der Bau der Ringstraße gedauert?
Der Abriss der Mauern begann 1858. Die wichtigsten öffentlichen Gebäude wurden zwischen den 1860er und 1880er Jahren errichtet. Der gesamte Prozess der Bebauung zog sich jedoch über 50 Jahre hin, bis etwa zum Beginn des Ersten Weltkriegs.

Hat von Alt alle wichtigen Ringstraßenbauten gemalt?
Ja, er hat praktisch alle wichtigen Bauten dokumentiert, oft sogar in mehreren Phasen ihrer Entstehung. Dazu gehören unter anderem die Staatsoper, das Kunsthistorische und Naturhistorische Museum, das Parlament, das Rathaus, die Universität und die Votivkirche.

Sind diese Bilder heute historisch exakt?
Ja, Rudolf von Alt war für seine topografische Genauigkeit berühmt. Seine Darstellungen der Baustellen und Gebäude gelten als äußerst zuverlässige historische Quellen und werden von ArchitektInnen und HistorikerInnen bis heute für Rekonstruktionen und Forschungen genutzt.

Wo kann man diese Bilder heute sehen?
Die bedeutendsten Sammlungen seiner Ringstraßen-Bilder befinden sich im Wien Museum am Karlsplatz, das sich auf die Stadtgeschichte spezialisiert hat, sowie in der Grafischen Sammlung der Albertina.

Gerhard RogenhoferJedes Objekt, das wir finden, ist ein Echo menschlicher Erfahrungen. Ich bin Gerhard und für mich ist Kulturgeschichte vor allem die Summe unzähliger persönlicher Schicksale. Hier auf Kultur-Fundstücke.de spüre ich diesen menschlichen Geschichten nach, die unsere Welt geformt haben.